Wer sich heute an den ehemals einzigen Wave-Club im Norden erinnert, hat allerdings vermutlich eher den Schwarz-Weiß gemusterten Pavillon an der Altonaer Max-Brauer-Allee im Sinn als ein zweigeschossiges Giebelhäuschen am nordöstlichen Rand Hamburgs. Es war aber ausgerechnet das verschlafene Poppenbüttel, in dem sich 1983 die kleine Revolution der großen Eventkultur anbahnte: ein Mix aus Konzertsaal und Disco mit Café und einem stilistischen Schwerpunkt, der seinerzeit noch heimatlos war. New Wave.
Es waren alternativere Töne als im vorherigen Schweinerockschuppen Sitrone, andere Töne auch als im fernen Stadtzentrum. Das Problem war nur, dass 1983, als die Bahn den Wochenenddienst stets um Mitternacht einstellte und Nachtbusse jede Rückfahrt mit Zwangshalt am Rathausmarkt zur Odyssee machten, Poppenbüttel als Zonenrandgebiet galt und entsprechend weitläufig umfahren wurde.
Sisters of Mercy, Cocteau Twins, Kurtis Blow, Ärzte
Dass dieser Standort bereits ein Jahr nach dem richtungsweisenden Besitzerwechsel ausbrannte, war also Pech und Segen zugleich. Unbekannte Darkrock-Bands wie die Sisters of Mercy, aufstrebende Postpunk-Pioniere wie die Cocteau Twins, angesagte Spaßrapper wie Kurtis Blow und ein junges Trio namens Die Ärzte hatten schon das Ursprungs-Kir zur Topadresse alternativer Sounds gemacht; doch erst im Flachbau an der Max-Brauer-Allee, nordwestlich der Sternenbrücke, wurde es 1984 zur Institution. Dorthin nämlich zog der Club um. Ein öffentlicher Rückzugsraum für alles Düstere, Experimentelle, Sperrige von Gothic über Elektro bis hin zum damals unverbrauchten Britpop.
Einerseits. Andererseits war es eine Probebühne für spätere Stadionbands. Björk etwa, oder Soundgarden und Bronski Beat. Bevor New Model Army zu Festivalheadlinern wurden, sollen die Folkpunks auf ebenerdiger Bühne ein gutes Dutzend Zufallsgäste – vor allem aber ein paar anwesende Musikkritiker beglückt haben.
Denkt man heute zurück ans Kir, dann wurde es in den Räumen der Rockerbude Airport zu einem ganz großen Konzertereignissaal. Es verwundert kaum, dass sich später geborene Clubs wie Mojo und Molotow in seiner Tradition sehen. Und es passt bestens in dieses Bild, dass die Hamburger Schule in seinem schwarzroten Ambiente mit dem schummerigen Ecktresen eine Art Kita betrieb. Doch in der Wahrnehmung vieler Stammgäste war es damals eher eine Disco, ohne überflüssiges Licht, aber dafür mit Kugel an der Decke.
Wirklich bedeutsam wurde das Kir weniger durch Konzerte künftiger Stars, als durch Motto-Abende mit DJs. Sie trugen zwar putzige Titel, hatten aber stets einen sorgsam getragenen Grundton, den auch die bierseligste Stimmung der Besucher nie so ganz in pure Fröhlichkeit verwandeln konnte. Hamburg halt. Hanseatisches Understatement noch im hochtaktigsten Ausrastmodus von Rock, Grunge, Garage, EBM.
Als ich selber, ein studentischer Freizeitkrösus der frühen Neunziger, der gewohnheitsgemäß an einer dieser Pflichtveranstaltungen zu Wochenbeginn teilnahm, wie so oft irgendwas Waviges im Fokus, und versuchte, psychoaktiv-expressiv wie Michael Stipe im Video zu Losing My Religion zu tanzen, erntete ich von Freunden und Umstehenden auf den Pinguin-Treppen am Rande des Dancefloors so mitleidiges Kopfschütteln, dass ich auf der schamesroten Flucht erstmals nach Jahren zufällig im Garten links der Bar landete. Ich stand plötzlich in einem Hinterhof mit Nachthimmelsicht und es brannte sich mir zweierlei ins Langzeitgedächtnis ein: Nicht zu ausdrucksstark bewegen. Und immer die Augen offen halten; das Kir war ein Ort der Abseiten und Nischen, voller Überraschungen, ohne Grenzen.
Angesichts seines unsteten Charakters verwundert es rückblickend kaum, dass das Kir 2003 abermals seinen Standort wechselte. 2003, nachdem Fatih Akin seinen ersten Langfilm Kurz und schmerzlos in seinen Räumen gedreht hatte, begann eine Irrfahrt durch die nähere Umgebung. Es musste – Tragik seiner subkulturellen Existenz – ausgerechnet einem linksalternativ gemeinten Wohnprojekt weichen.
Erst zog es in eine ehemalige Fertigungshalle nahe der Fabrik in der Barnerstraße, wo wiederum der Regisseur Jim Jarmusch trotz zügig schrumpfender Relevanz des Clubs für sein Spätwerk Only Lovers Left Alive aufschlug. Dann ging es Anfang vorigen Jahres weiter in die Kleine Freiheit. Dort klagte das Wohnumfeld jedoch so konstant, dass die Karawane nur Monate später nach Eimsbüttel aufbrach, wo Mitte März Einweihung gefeiert wurde.